📰 Einordnung In Dresden hat die Tänzerin und Choreographin Katja Erfurth ein konzentriertes Solo vorgestellt, das literarische Vorlage und Tanzdisziplin bündig zusammenführt. Grundlage ist Maxie Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“, Erfurths Abend trägt den programmatisch widerständigen Titel „Aber ich höre nicht auf, solange ich kriechen kann“. Das Ergebnis ist ein stilles, präzises Psychogramm mehrerer Frauenbiografien, fern jeder Effekthascherei.
📚 Die literarische Vorlage Maxie Wanders 1977 erschienenes Buch versammelt „Protokolle nach Tonband“: 19 Frauen zwischen 16 und 92 Jahren sprechen ungeschönt über Arbeit, Familie, Körper, Sexualität und Verlust. Es sind dokumentarische Stimmen aus der DDR, eingefasst von einem Vorwort Christa Wolfs. Die knappe Form, das Festhalten am jeweiligen Tonfall und der Verzicht auf Fiktion machten die Sammlung zum Klassiker, der ostdeutsche Lebenswirklichkeit mit seltener Unmittelbarkeit konserviert. Diese Nüchternheit und moralische Strenge greift Erfurth tänzerisch auf, ohne in Nostalgie zu verfallen.
🎭 Choreografischer Zugriff Erfurth zeichnet sieben Frauenbilder und verwandelt sich über reduzierte Schritte, kleine Gesten und sparsame Requisiten von einer Figur in die nächste. Die Übergänge gelingen durch kurzes Abgehen, Kostümwechsel und die Einblendung von Name, Alter und Tätigkeit per Ton vom Handy – ein sachlicher Regiegriff, der die Porträthaftigkeit betont. Entscheidend ist: Erfurth erfindet neue Figuren; sie kopiert nicht Wanders Protokolle, sondern führt deren Haltung ins Heute fort.
🎼 Klangliche Rahmung Helmut Oehrings elektronische Suite „Zerbrechlich I–VII“ stützt das Geschehen – mal kontrastierend, mal auffangend, stets ohne die Szene zu übertönen. Die Musik fügt sich als atmende Struktur ein, die Präzision und Ruhe der Bilder bewahrend, statt ihnen Wirkung abzunehmen.
👥 Porträt statt Pose Der Abend setzt auf Maß, Zurücknahme und klare Setzungen. Er sucht keine großen Effekte, sondern die nachhaltige Beobachtung: Der Blick auf Gesten, Haltungen und Pausen schärft das Psychogramm der sieben Frauen und lässt ihre Lebenslinien ohne Ausrufungszeichen sichtbar werden.
🧭 Hintergrund der Künstlerin Erfurth ist in Dresden ausgebildet (Palucca-Schule), tanzte im Ballett der Semperoper und arbeitet seit 1997 freiberuflich. Seit 2019 kooperiert sie wiederholt mit Oehring. Diese Schule der Form und die biographische Nähe zum Stoff erklären die strenge Handschrift des Abends.
🔎 Ästhetische Haltung Der Zugriff auf Wanders Material ist behutsam: nicht museal, doch respektvoll; nicht agitatorisch, sondern prüfend. Erfurth wahrt die Grenze zwischen privater Beichte und öffentlicher Kunst – eine Grenze, die gegenwärtig oft nivelliert wird. Die Entscheidung für Klarheit und Disziplin trägt die Deutung, statt sie zu behaupten.
⚖️ Kritische Einordnung Kritisch ließe sich einwenden, dass die formale Strenge gelegentlich den Blick aufs Gesellschaftliche verengt. Doch gerade diese Beschränkung stärkt die Präzision der Porträts: Das Einzelne wird lesbar, ohne zum Exempel stilisiert zu werden.
✅ Fazit Der Soloabend empfiehlt sich durch Maß und Disziplin. Plakative Zeitdiagnosen und sentimentales Ostalgie-Flair bleiben außen vor; stattdessen dominieren Beobachtung, Haltung und handwerkliche Klarheit. So entsteht ein ernsthafter Beitrag zur Erinnerungskultur, getragen von künstlerischer Selbstdisziplin und einem klaren Sinn für das, was auf der Bühne Gewicht hat.
🗨️ Kommentar der Redaktion Kunst, die Maß hält und Form bewahrt, verdient Schutz – gerade wenn sie auf laute Botschaften verzichtet. Erfurths Strenge ist kein Mangel, sondern eine Tugend gegen den Trend zur Selbstentäußerung. Wer Erinnerungskultur ernst nimmt, vertraut der Genauigkeit des Blicks mehr als dem großen Gestus. Dieser Abend zeigt, dass Respekt vor der Vorlage und Disziplin im Ausdruck nicht rückwärtsgewandt sind, sondern zukunftsfähig. Das bewusste Meiden von Agitation ist hier kein Ausweichen, sondern eine klare Setzung der Verantwortung gegenüber Stoff und Publikum.


